Großes Drama im »Dorf mit Straßenbahn«
»Ein neues Gefüge, das den praktischen Erfordernissen des modernen und möglichst auch zukünftigen Wirtschafts- und Gesellschaftslebens genügt und gleichwohl die Unverwechselbarkeit und Tradition Krefelds zum Ausdruck bringt«, stellt der damalige Stadtplaner Gerhard Rabeler als Utopie dem »steingewordenen Ausdruck einer vergangenen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung« gegenüber (»Das zukünftige Krefeld«, Die Heimat 25, 1954, Seite 265 ff.). Kein leichtes Unterfangen, dieser Neuanfang in der Stunde Null, denn außer der Beibehaltung des Vagedesschen Grundrisses steht alles zur Disposition. Im Brennpunkt: die bauliche Entwicklung zwischen den vier Wällen. In seiner Denkschrift aus dem Jahr 1959 analysiert Rabeler die Aktivitäten der letzten zehn Jahre und sein vernichtendes Urteil lautet: »Eine durchgreifende Neuordnung des Kernbereichs wurde nicht durchgeführt.« Der Grund: Stark zerstückelter Grundbesitz und gegensätzliche Interessen. Es fehle an ausreichenden Verkehrsflächen, Grünanlagen und einer sinnvollen Trennung von Wohn- und Geschäftsbereichen. Die Innenstadt als stadtpolitischer Zankapfel seit über einem halben Jahrhundert.
Anfang der 1960er Jahre herrscht Aufbruchstimmung. Aus dem »Dorf mit Straßenbahn« (SPD-Ratsherr Adolf Markard) soll eine moderne Großstadt werden. Für den Neubau des kriegszerstörten Stadttheaters ist der zentrale Parkhofplatz, heute Theaterplatz, vorgesehen. Und unmittelbar benachbart soll die neue Stadthalle errichtet werden. 1961/63 werden Theater und Stadtbücherei gebaut. Zehn Jahre später soll das Seidenweberhaus das Gebäudetrio auf dem Theaterplatz abrunden. Doch erst im Januar 1976 öffnet es seine Pforten, und die Rheinische Post veröffentlicht den Stoßseufzer: »Das Seidenweberhaus ist der letzte Akt eines großen Dramas«. Nirgendwo sei seit Kriegsende soviel Herzblut geflossen wie in der endlosen Debatte um die Stadthalle. »Den provisorischen Stadthallenbau als vordringlichen zu behandeln«, bitten die Mitglieder des Kulturausschusses am 30. Dezember 1948.
Interessierte Kreise der Krefelder Bürgerschaft haben offensichtlich den Anstoß gegeben. Die Standorte des alten Theaters wie auch der alten Stadthalle bieten zu wenig Raum und werden verworfen. In der Vorlage für den Bauausschuss spricht sich der Beigeordnete Wilhelm Wronkaauch gegen den Sprödentalplatz aus, weil Krefeld sich kein zweites Zentrum leisten könne. Vielmehr lautet seine Empfehlung: als städtebauliche Dominante und Gegenstück zum Hauptbahnhof das nördliches Ende des Ostwalls (heute Polizeipräsidium). Der Bauauschuss pflichtet ihm bei, die Vorbereitungen beginnen,kommen aber ins Stocken, und für zehn Jahre verschwindet die Stadthalle wieder von der politischen Bildfläche.
60 Jahre politischer Zankapfel
Im März 1960 steht die Stadthalle auf einmal wieder auf dem Plan. Der Hauptausschuss beschließt die Bildung einer »Kommission für die Stadthallenplanung«, und Oberbürgermeister Hellenbrock übernimmt deren Vorsitz. Bei Kultur- und Sportvereinen wird der Raumbedarf abgefragt. Auch die Frage, ob Mehrzweckhalle oder Kulturhalle, soll geklärt werden. Eine geplante Besichtigungsreise findet nicht mehr statt, weil Kommunalwahlen den Fortgang einholen.
Der neue Rat bildet einen Stadthalle-Ausschuss, der unter Vorsitz von Oberbürgermeister van Hüllen am 10. März 1962 erstmals zusammentritt und noch am gleichen Tag eine Tour nach Neuss, Bonn, Bad Godesberg und Siegen unternimmt, wo Stadthallen besichtigt werden. Dieser anfängliche Elan verrauchte rasch. Das ganze Vorhaben erschöpfte sich in einem »bürgerschaftlichen Gespräch« im alten Krefelder Hof. Bis 1967 geschah wiederum nichts, außer, dass bei der Planung des neuen Krefelder Hofs (1967) ein Saalbau im Umfeld des Hotels angeregt, aber wegen eines fehlenden passenden Grundstücks nicht weiter verfolgt wurde. Das Thema Stadthalle kommt auf einmal wieder aufs Tapet. Aber wohin mit dem Bauwerk?
Der nördliche Ostwall ist nun bebaut, und so erwägt man als Standort den Sprödentalplatz, wo auch ein Technisches Rathaus sowie Wohn- und Geschäftszeilen errichtet werden sollen. In der erhitzten öffentlichen Diskussion erweist sich das vom Verfall bedrohte Stadtwaldhaus als zusätzlicher Sprengstoff: Könnte ein Neubau am Stadtwaldweiher die Stadthalle ersetzen? Der Hauptausschuss stimmt schließlich für den Abriss des Baudenkmals, während der Stadthallenausschuss sich am 27. Januar 1969 einstimmig für den Standort Sprödentalplatz ausspricht.
Ende dieses Jahres empfehlen drei Professoren in ihrem Gutachten, die Sport- von der Kulturhalle zu trennen, und der Hauptausschuss folgte diesem Rat – auch darin, den Sprödentalplatz ausschließlich für die Stadthalle zu reservieren, um keine Konkurrenz zur Innenstadt zu schaffen. Konträr verdeutlichen zwei Gutachter, dass für sie die Stadthalle in die Stadtmitte gehöre. Um nicht weitere Zeit zu verlieren, werden 1970 gleichzeitig zwei Ideenwettbewerbe ausgeschrieben: der eine für die nördliche Innenstadt, der andere für eine »Sprödentalhalle« mit 2.000 Plätzen. Das Konzept der Krefelder Architektengemeinschaft Stappmann/Thörissen/Winter für eine Stadthalle überzeugt das Preisgericht, und das Trio erhält am 10. November 1970 den Auftrag für einen Vorentwurf in kleinerer Dimension.
Zum untersuchten Areal »nördliche Innenstadt« des anderen Wettbewerbs gehört auch der Theaterplatz, auf dem die Stadt eine zweistöckige Tiefgarage bauen will, über der, den Platz zur Straßenseite hin abschirmend, die Volkshochschule mit einem kleinen Vortragssaal in der 1. Etage sowie ein Restaurant und Geschäfte zu ebener Erde untergebracht werden sollen. Im städtischen Bauamt skizziert man diesen Entwurf auf einem sechseckigen Grundraster mit variablen Modulen.
Und dann überstürzten sich die Ereignisse. Am 17. Februar 1971 überrumpelt Oberbürgermeister Hansheinz Hauser den ahnungslosen Hauptausschuss mit einem Modell des Seidenweberhauses als zentraler Stadthalle. Es überzeugt die Mehrheit, die zustimmt. In der RP vom 19. Februar 1971 steht zu lesen: »Hauser wählte nicht den demokratischen, dafür den geraden Weg, der kurzfristig ein Ergebnis brachte«.
Die Sprödentalhalle wird ad acta gelegt. Und als Stadtplaner Röhm dem prämierten Architektenteam Stappmann/Thörissen/Winter den »Trostpreis« offeriert, den Sechseck-Entwurf der städtischen Bauverwaltung realisieren zu dürfen, lehnt es dankend ab. Das Architekturbüro Sippel/Trubert/Klein übernimmt die weitere Planung. Grundsteinlegung ist am 21. Juni 1972, die Eröffnung wird am 10. Januar 1976 als Bürgerfest gefeiert. Das Gebäude kostet 24,6 Millionen Mark. Ein Preisausschreiben ermittelt seinen Namen: Seidenweberhaus.
Irmgard Bernrieder