Mies van der Rohe und seine Krefelder Hinterlassenschaften
Haus Lange wurde dicht gemacht. Mit dieser so originellen wie simplen Maßnahme antwortete der amerikanische Konzeptkünstler John Baldessari im Sommer 2009 auf den wegen seiner Offenheit und Transparenz vielgerühmten »International Style« Mies van der Rohes. Was bleibt vom Innenraum, wenn die vielfachen visuellen Bezüge zur Umgebung, die durch große Fensterflächen dem Haus zufallen, unterbunden werden?
Mies van der Rohe, als Erfinder des »Neuen Bauens« einflussreichster Architekt des 20. Jahrhunderts neben Le Corbusier, erlebt in den letzten Jahren seine Wiedereingliederung in die Baugeschichte. Der einzigartige Neuerer bietet nämlich Neotraditionalisten und deren Retro-Architektur mit seinen frühen traditionalistischen und materialverliebten Berliner Landhäusern eine willkommene Rechtfertigung für die Wiedereinführung architektonischer Konventionen. Von jenem frühen Schaffen, angeregt von Karl-Friedrich Schinkel, Peter Behrens und Hendrik Petrus Berlage, wollte der radikale Neuerer später nichts mehr wissen. Ebenso wenig wie von den Idealen des Bauhauses, das er doch von 1930 bis zur Schließung 1933 geleitet hatte. Lieber kehrte er den genialen, aus sich heraus schöpfenden Meisterarchitekten heraus.
Krefeld verfügt über vier herausragende Beispiele der weltberühmten »Haut- und Knochenarchitektur« Mies van der Rohes: die beiden Villen Haus Esters und Haus Lange, errichtet zwischen 1928 und 1930, sowie das HE-Gebäude der Vereinigten Seidenwebereien AG (Verseidag) und die nach seinen Plänen gebaute Sheddachhalle der Färberei (1931). Josef Esters und Hermann Lange, die beiden Verseidag-Direktoren, waren mit Mies van der Rohe befreundet und bewunderten dessen Bruch mit Historismus und Formalismus. Seine Suche nach logischen Strukturen und Sachlichkeit in der Architektur sowie sein Streben nach materialgerechtem Bauen veranlasste sie, ihn mit dem Bau ihrer Wohnhäuser auf benachbarten Grundstücken zu beauftragen.
Des Architekten Utopie: Die fortschreitende Technisierung der Gesellschaft sollte mit Mitteln der Gestaltung beherrschbar werden und in der Anwendung industrieller Produkte zum Ausdruck kommen. Schon fünf Jahre war es her, dass Mies van der Rohe sein »Neues Bauen« theoretisch formuliert hatte, als er die Stahlskelettbauten an der Wilhelmshofallee in Angriff nahm. 1930 verwirklichte er in Krefeld auch seinen einzigen Industriebau aus Stahl, Glas und Beton. Seine Krefelder Hinterlassenschaften überstanden die Bombenstürme des zweiten Weltkriegs. Haus Lange, dessen Besitzer Kunst sammelte, wurde seit 1955 als Museum umgenutzt und ging 1968 in den Besitz der Stadt über. 1976 erhielt die Kommune auch Haus Esters und veranstaltet in den Räumen seither Ausstellungen.
Die Architekturpreziosen wurden, scheint es, nicht sonderlich geschätzt und unzureichend gepflegt. Reparaturen wurden solange aufgeschoben, bis die Bausubstanz schwer geschädigt war. Sogar der Abriss soll damals erwogen worden sein. Wer weiß, was geschehen wäre, hätte sich nicht der umtriebige Krefelder Architekt Klaus Reymann für die Bauten eingesetzt. Er brachte die Baudenkmal-Stiftung auf den Weg, erfasste die Schäden an den Gebäuden und rührte die Spendentrommel. Die Stadt hatte nämlich nur 160.000 Mark in ihrem Säckel, und um auf 20 Prozent der auf 4,5 Millionen Mark veranschlagten Restaurierungskosten zu kommen, mussten 740.000 Mark gesammelt werden. 1997 bewilligte das Land NRW den 80-prozentigen Zuschuss, und 1998 begann die Restaurierung von Haus Esters und Haus Lange. Reymann hatte Baupläne studiert, Materialproben von den Bauten analysiert und betreute schließlich die Restaurierung – unentgeltlich. Oberstes Prinzip: die Sicherung der historischen Bausubstanz. Zwei Jahre dauerten die Arbeiten, und zum Abschluss dokumentierte eine Ausstellung im Haus Lange das gesamte Vorhaben. Die Stadt ist heute stolz auf das viel besuchte Architekturensemble inmitten weitläufiger Parkanlagen, die im Rahmen der »Euroga 2002plus« wiederhergestellt wurden.
Die »Villen« stehen unter Denkmalschutz wie auch seit 1999 das Verseidag-Gebäude, van der Rohes einziges Industriegebäude, das modellhaft seine grundlegend neuen Ideen verkörpert. Das Gebäude wurde 1931 und 1935 errichtet, Erich Holthoff betreute bis 1937 die Aufstockung des sogenannten HE-Gebäudes (HE = Herrenfutterstoffe) um zwei Geschosse. Nach Bombentreffern im zweiten Weltkrieg wurde das Bauwerk in den 1970er Jahren wiederholt umgebaut, aber nach der Ernennung zum Denkmal in den ursprünglichen Zustand zurückgebaut.
Unter dem Motto »mehr mies« finden seit 2007 die Krefelder Architekturtage statt. Die Kunstmuseen Krefeld richten hierbei den Fokus auf die historische und aktuelle Bedeutung des Architekten. Zwei Mal im Jahr wird ein Themenspektrum rund um die Häuser Lange und Esters ausgebreitet.
Mies van der Rohes nicht realisiertes Golfhaus auf dem Eglsberg war 2013 Anlass einer temporären architektonischen Installation.
Irmgard Bernrieder