»kühner als kühn« – oder »Schandfleck«

Bleichpfadhochhaus, Blick aus dem 21. Stock in Richtung Innenstadt. Foto: Ulla Schreiber
Bleichpfadhochhaus, Blick aus dem 21. Stock in Richtung Innenstadt. Foto: Ulla Schreiber

Das Wohn- und Geschäftsareal steht mitten in der Innenstadt und ist trotzdem von kaum einen Standtort in der Stadt selbst zu sehen. Dieses zweithöchste Gebäude Krefelds wurde auf dem ehemaligen Straßenbahndepot Philadelphiastraße/Ecke Bleichpfad errichtet. Mit seinen 76 Metern ist es zwar das höchste Wohnhaus Krefelds, wird aber von Bayerkraftwerk mit 180 Metern weit übertroffen.

Das Bauvorhaben entsteht aus der Feder einer Krefelder Investorengruppe von ca. 15 Anlegern mit den Hauptakteuren der Baugesellschaft Lichtenberg und Röder sowie der Realbau des Architekten Schädler. 1970 veräußert die Krefelder Verkehrsgesellschaft das Areal an diese. Zu den Investoren gehören sieben Kaufmänner und die Ingenieure R. Krawinkel, H. Küppers und P. Harnake sowie die Architekten G. Röder und A. Schädler (zu lesen in einem Leserbrief in der WZ vom 6. September 1969).

Der erste Entwurf sieht eine städtische Staffelbauweise beidseitig der Philadephiastraße vor, verbunden durch eine Rolltreppe über den Straßenraum. Andere Investorengruppen werden nicht erwähnt d.h. es gibt nur diesen einen Vorschlag – ein rein Krefelder Gewächs. Eine Ausschreibung dieses Grundstücks, wie sonst bei solchen Größenordnungen, bleibt unerwähnt.

Am 26. Juni 1970 kauft das Gelände die Gehosa/Realbau (nun Name der Investorengruppe). Für die Errichtung des Wohn- und Geschäftsareals kalkuliert sie 6 bis 9 Millionen DM plus 5 Millionen an Abrisskosten. Alle entwurflichen Absprachen über die Entwicklung dieses Areals entstehen im Kontext mit dem damaligen städtischem Baudirektor Danke und Oberbaurat Nüsser. So ist es verblüffend, dass es in der Ausschusssitzung für Stadtplanung und Stadtsanierung zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Politik, vor allem Toni Matura CDU kommt (WZ 23. Januar 1971). Im Fokus steht dabei die Stadtverwaltung unter der Federführung von Baudezernent Günther Kusch. Das Vorhaben wird aus wirtschaftlichen Gründen mit seinen 23 Geschossen auf das Areal Felbel-/Steckendorferstraße geschrumpft. Noch 3 Monate vorher war das Projekt als »genial« oder »kühner als kühn« vom Ausschussvorsitzenden Toni Matura bezeichnet worden (RP vom 16. Januar 1971). Dem Ausschuss wird nun ein gänzlich anderer Baukörper, mit anderen Flächenbilanzen und Anzahl der Wohnungen vorgestellt. Nun – das Vorhaben erhält dann doch noch in der selben Sitzung die Zustimmung des Ausschusses. Wer die Liste der verantwortlichen Politiker durchgeht, stößt auf bekannte Größen, die zum Teil bis in die letzten Legislaturperioden politisch aktiv waren.

Eine Ratsdame aus der Zeit sagte: »Hätte ich gewusst, wie hoch das Gebäude wird, hätte ich dem nie zugestimmt«. In der Sitzung wurde neben den Plänen ein Modell präsentiert. Mehr Anschauung geht nicht!

Bleichpfadhochhaus, Blick aus dem 21. Stock in Richtung Duisburg. Foto: Ulla Schreiber
Bleichpfadhochhaus, Blick aus dem 21. Stock in Richtung Duisburg. Foto: Ulla Schreiber

Nun, das Bleichpfadhochhaus, genehmigungsfähig durch den nachgestellten entsprechenden Bebauungsplan 336, wird von der Investorengruppe gebaut. Die hohe Dichte und die totale bauliche und wirtschaftliche Auslastung eines innerstädtischen Grundstücks im vorherigen Besitz der SWK findet im Kommunalparlament am 9. Februar 1972 seine rechtliche Bestätigung bzw. Satzungsbeschluss. Menschen ziehen in die 252 (auch heute noch vorbildlich geschnittenen) Wohnungen, allerdings mit einem bis heute unentschuldbaren inneren Erschließungssystem ein. Schwellenfreien Zugang genießen hier nicht alle Wohnungen, da ab den Mittelgängen interne Treppenauf- und Abgänge die Wohnungen der darüber und darunter liegenden Geschosse erschließen. Im zweigeschossigen Flachbau befinden sich Gewerbe und Ladenflächen, heute auch Sitz des Neukirchener Erziehungsvereins.

1983 werden im Bleichpfadhochhaus in einer der schlechtesten Belegungspolitiken der Stadt Krefeld, Flüchtlinge aus Sri Lanka in Büros untergebracht, die später aus Protest gegen diese Art der Unterbringung freiwillig das Haus und die Stadt verlassen. Diese Art der Asylpolitik, so berichten Beobachter dieser Zeit, haben wesentlich zum schlechten Ruf des Hauses beigetragen. So klagt 1989 dann der Besitzer erfolgreich gegen die Stadt Krefeld, keine weiteren 70 bis 80 Asylbewerber aufzunehmen zu müssen.

2006 zieht bis zur Fertigstellung der Mediothek die Stadtbibliothek zur Zwischennutzung im Bürotrakt auf 2.500 m² Bürofläche ein – ein damaliger kurzfristiger Wissenssegen für dieses Wohnquartier.

Dieses internationale gestapelte Dorf wird von ganz normalen Bewohnern aus ca. 25 Herkunftsländern bewohnt (auch Länder, die wir gerne bereisen). So sind die engagierte Arbeit des im Erdgeschoss gelegenen städtischen Kindergartens, des Jugendclubs und die der Grundschule an der Felbelstraße Garanten für eine vorurteilsfreie Integrationsarbeit. Die engagierte Hausverwaltung achtet und unterstützt ihre Bewohner auch bei vielen Lebensfragen.

Beton altert schelcht, und so entscheiden sich die Besitzer im Jahr 1975, das Haus von Designern farblich gestalten zu lassen – ein heute überaltertes Konzept, wenn man die erfolgreiche auch optische Sanierung von anderen Hochhausarealen vergleicht. (z.B. die »Papageiensiedlung« in Ratingen West)

Könnte man die Zeit zurückdrehen, wünschte man sich, dass es eine städtebauliche Studie über das gesamte Areal und die benachbarten Ouartiere gegeben hätte: Diese Entwicklungsstudie hätte das gesamte ehemalige Straßenbahndepot-Areal an der Cracauer-, und Steckendorferstraße zum Inhalt haben sollen, um sie dann in einem offenen Planungsdialog mit den Krefeldern zu erörtern. Bauliche Wettbewerbe wären die notwendige architektonische Antwort auf die Neugestaltung dieses Stückes Stadt gewesen. Die einseitige Investorenpolitik hinterlässt nun seine sichtbare Duftmarke, eine hoch verdichtete Bauweise auf kleinstem Grünstück, ohne die entsprechenden Freiflächen – und das mitten in der Stadt. Die Verantwortlichen ducken sich bis heute weg. Verdichteter Städtebau lässt sich auch anders erreichen.

Erst 1977 werden die vier – bis dahin nur im Rohbau errichteten – obersten Geschosse durch die Firma Lichtenberg und Röder fertiggestellt.

Bleichpfadhochhaus, Blick aus dem 21. Stock in Richtung Innenstadt. Foto: Ulla Schreiber
Bleichpfadhochhaus, Blick aus dem 21. Stock in Richtung Innenstadt. Foto: Ulla Schreiber

Ab 1980 gerät die Eigentümergemeinschaft bzw. Lichtenberg und Röder finanziell ins Schlingern. Die Presse berichtet über einen potente Grundstückgesellschaft aus Hamburg, die dann den Gebäudekomplex kauft (WZ 24. September 1983). Der Stadtrat hatte bereits einen Verkauf an die städtische Wohnungsbaugesellschaft abgelehnt. Der Besitzerwechsel währt nicht lange, da die Hausbank des neuen Besitzers 1989 Insolvenz beantragt (siehe RP vom 5. März 1989).

Am 10. Oktober 1989 wird der Baukomplex an den schwedischen Immobilienriesen Trianon mit der niederländischen Tochter Westona für 23,5 Millionen DM versteigert und ist bis heute – ausgenommen der städtische Kindergarten und das SWK Kraftwerk – alleiniger Besitzer. Die neuen Eigentümer wissen (Zwangsversteigerungsverfahren) um den zweifelhaften Ruf, aber auch um die gute zentrale Lage des Bleichpfadhochhauses: es steht mitten in der Innenstadt mit ÖPNV Anschluss. Alle lebensnotwendigen Einrichtungen sind fußläufig erreichbar. Die Stadt der kurzen Wege ist das Zukunftsmodell in Zeiten des demografischen Wandels.

Wenn die bereits in der Presse 2013 angekündigten baulichen Investitionen eine entsprechende Finanzierung erfahren werden, können bald ganze Geschosse komplett schwellenfrei und von betreuten Wohngruppen unter der Federführung des Neukirchener Erziehungsvereins realisiert werden. Angedacht sind zusätzliche Aufenthaltsräume über dem neu vermieteten Supermarkt mit Tagescafe. Mietergärten im Hofbereich über dem Parkhaus könnten das minimale Freiflächenangebot ausgleichen. Die energetische Ertüchtigung inklusive Solardach gehört zum Konzept.
»Der Rheinländer weiß nichts, kann aber viel erzählen!« (H. D. Hüsch) – und so ranken sich bis heute Geschichten und Vermutungen um das Leben in diesem Haus, aber kaum jemand der Kritiker hat das Haus je von innen gesehen oder kennt Bewohner. Politik und Verwaltung halten sich vornehm zurück oder ignorieren gar die Existenz des Hauses. Herr Koch, ein langjähriger Aktivist der Quartiersinitiative »Volldampf« beklagt dieses bewusste Vorbeischauen an einem Stück Innenstadt und deren Bewohnern.

So schauen die Mieter nun auf die vielen neuen baulich gerasterten und gelochten innerstädtischen Großprojekte herunter und hoffen, dass diese sich eingliedern in das gute städtebauliche Grundraster Krefelds und den Takt der bestehenden Hausfassaden. Die fünfte Dimension im Städtebau, die Dachlandschaften, haben die neuen Projekte bereits gestalterisch verlassen: Hier steht auf den weißen Flachdächern alles, was man im Gebäude nicht brauchen kann. Solaranlagen oder Gründächer findet man nur bei der Stadtsparkasse.

Wenn die Wohndauer von Mietern im Bleichpfadhaus weit über 20 Jahre hinausreicht – dies ist im Hochhaus keine Seltenheit und eine Beweis für Wohnzufriedenheit – so lässt dies alle Vorurteile und Verunglimpfungen von außen vergessen. Die Bewohner jedenfalls haben dieses Gebäude nicht geplant, finanziert und genehmigt.

Ulla Schreiber

Weitere Information:
WZ vom 30. Januar 2011: »Es tut sich was im Bleichpfad-Hochhaus«
Hochhaussiedlung Ratingen-West