Richard Wagner und der Regieprovokateur John Dew

Aribert Reimann in König Lear, Theater Krefeld/Mönchengladbach. Foto: Thomas Eichhorn
Aribert Reimann in König Lear, Theater Krefeld/Mönchengladbach. Foto: Thomas Eichhorn

Die Erde bebt unter seinen Füßen, der alte König »Lear« irrt orientierungslos über die Heide, nichts ist mehr erkennbar, alles um ihn herum bricht zusammen. Der alte Lear glaubt den falschen Töchtern und nimmt die einzig ihn liebende Cordelia nicht ernst, er hält sie tot in den Armen, alles zerbricht, er endet im Irrsinn.

Die Instrumente sind um das Geschehen im Bühnenraum platziert, an den Sänger des »Lear«, Monte Jaffe, werden höchste sängerische Ansprüche gestellt. Der 1936 in Berlin geborene Komponist Aribert Reimann wagte die Komposition dieses »Ungeheuerlichen« und schuf das Musiktheater-Werk »Lear«, das auf diese beeindruckende Weise an den Städtischen Bühnen Krefeld/Möchengladbach unter der Intendanz von Eike Grams eine überaus nachwirkende und weit über die Region ausstrahlende Aufführung fand. Eike Gramss, von 1985 bis 1991 Generalintendant der Vereinigten Bühnen, hatte es sich als Intendant und Regisseur zur wesentlichen Aufgabe gemacht, Werke des zeitgenössischen Musiktheaters auf die Bühne zu bringen.

Die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Musiktheater begann in Krefeld bereits um 1884, immer wieder fand Neues, Ungewohntes statt. Zusammen mit dem jungen Generalmusikdirektor Yakov Kreizberg (von 1988 bis 1994) erwarb sich das Theater durch die intensiven Inszenierungen der Stücke des zeitgenössischen Musiktheaters überregionale Bedeutung. In »Troades«, ebenfalls von Aribert Reimann, warten zuletzt die Frauen von Troja auf ihren Abtransport auf den Schiffen nach Hellas. Astyanax wurde Andromache aus den Armen gerissen und von den Mauern Trojas in die Tiefe gestürzt, kaum zu ertragen in Szene und Musik. Und doch – auch wenn zeitgenössisches Musiktheater in der Darstellung der grausamen Welt die Zuschauer nicht schont – wollte Reimann das Ende positiv verstanden wissen: Hekabe, die Königin, spricht zuletzt: »Nun nehme ich mein Leben und trage es zu Ende!«

Richard Wagner – Tristan und Isolde. Foto: M. Kliché
Richard Wagner – Tristan und Isolde. Foto: M. Kliché

Mit »Judith« des Berliner Komponisten Siegfried Matthus brachte das Theater 1986 die Westdeutsche Erstaufführung des Werkes auf die Bühne. Auch hier wird die Darstellung der Gewalt an den Menschen zu Beginn der Oper nicht ausgespart. Beklemmend. 1990 kam die Oper »Elegie für junge Liebende« von Hans Werner Henze (1926-2012) zur Aufführung. Es geht in dem Werk um die Frage, ob Künstler andere Menschen zu ihrem eigenen künstlerischen Zweck missbrauchen dürfen. Bereits in der Spielzeit 1976/77 war Henzes bissige satirische Oper »Der junge Lord« am Gemeinschaftstheater aufgeführt worden. »Le Grand Macabre« von György Ligeti verdeutlicht die groteske kollektive Erwartung des Todes. Der Weltuntergang findet nicht statt. In dem Musiktheaterwerk »Das Gesicht im Spiegel« von Jörg Widmann (Komponist und Klarinettist, geb. 1973) setzt sich der Komponist mit der Vision der Klonbarkeit des Menschen auseinander. Widmann zeigt die Katastrophe. Was bleibt: Entsetzen. Libretto, Musik, Bühne, eine ungemein beeindruckende Aufführung während der Intendanz von Jens Pesel.

Einen weiteren Schwerpunkt setzte das Theater in den 80er Jahren mit Aufführungen von Musikdramen Richard Wagners unter der Regie von John Dew, einem der ersten Provokateure des Regietheaters.
Da war der Kühlschrank. Mitten im kargen Raum. Aus diesem holte Sieglinde ein Bier und stellte es auf den ebenso kargen Küchentisch vor Siegmund. Ein ziemlich unbehauster Ort, so mitten unter der Weltesche, in deren Stamm der Göttervater Wotan das Schwert rammte, das nur der stärkste Held in seiner höchsten Not herausziehen kann. Scheinbar wie eine Geschichte von nebenan beginnt die »Walküre«, der zweite Abend des »Ring des Nibelungen« von Richard Wagner. John Dew verstörte 1985 das Publikum. Man hatte einen »mythischen« Ring erwartet, und nun der Kühlschrank in der Küche, eine sich selbst zerstörende Weltesche und die »Götterdämmerung« im Atomtod. Die »Erlösung« findet nicht statt. Am Ende lässt allein die Musik den Neuanfang denken. In der Rückschau auf diese Inszenierung während der Intendanz von Joachim Fontheim wird die Bedeutung dieser Inszenierung von John Dew an den Städt. Bühnen Krefeld/Mönchengladbach deutlich. Es ging um Zeitbezug, weg von den mythologischen Bildern, John Dew wollte diesen in die Köpfe des Publikums katapultieren. Mächtige Irritation, zu der Zeit. John Dew war auch der Regisseur der Wagner-Oper »Tristan und Isolde«, in der er die beiden Titelgestalten mit Wagner und Mathilde Wesendonck gleichsetzt und damit die Oper als Spiegel persönlicher Liebesrealität deutete.

Im Wagner-Jahr 2013 führte das Gemeinschaftstheater die selten gespielte Oper »Rienzi« auf und gewann damit wiederum überregionale Bedeutung.

Ute Büchter-Römer

Information zum Zeitgenössischen Musiktheater in:
Büchter-Römer, Ute: »Reflexe des Unbehausten-Eine Einführung in das zeitgenössische Musiktheater«, Ricordi, TOP 0306