Das Ballett Krefeld/Mönchengladbach ist so alt wie das Gemeinschaftstheater am Niederrhein. Denn als die Städte Krefeld und Mönchengladbach 1950 beschlossen, ein gemeinsames Theater zu gründen, schufen sie ein Mehrsparten-Haus mit Schauspiel, Oper, Ballett, Kinder- und Jugendtheater sowie Konzertwesen. Wer sich mit der Historie befasst und Zeitzeugen befragt, stellt schnell fest, dass die Geschichte des Ensembles ein Spiegel deutscher Ballettgeschichte ist. Das bedeutet zunächst: Der Stellenwert des Tanzes am Stadttheater war anfangs äußerst gering. So erklärt es sich, dass die soeben aus der Taufe gehobene Compagnie ihren ersten Auftritt 1950 in einer Oper, nämlich Albert Lorzings »Undine«, hatte – Ballett war Beiwerk. Als erste reine Ballettproduktion kam 1951/52 »Tanz-Fantasien« heraus.
Das bundesdeutsche Publikum wollte nach dem Grauen des Zweiten Weltkrieges Leichtes, Gefälliges sehen. Die Anfänge des deutschen Ausdruckstanzes in der Vorkriegszeit mit seinen gesellschaftskritischen Ansätzen hatten die Nationalsozialisten niedergetreten – und es stand auch niemandem mehr der Sinn danach.
So begnügte man sich lange Zeit mit einem einzigen Ballettabend pro Spielzeit auf dem Programm. Igor Strawinskys Kompositionen waren angesagt: »Orpheus und Eurydike« lief 1954/1955, »Die Geschichte vom Soldaten« folgte 1955/56. Sergei Prokofjews »Symphonie classique« tanzte das Ballett 1956/57. Die Bedeutung der Tanzsparte war so gering, dass in den Aufzeichnungen des Archivs, das die langjährige Dramaturgiesekretärin Antje Fricke aufgebaut hat, nicht einmal die Choreografen der Ballette vermerkt sind. Auch von einem Ballettdirektor ist vor 1958 keine Rede – vermutlich hat der jeweilige Intendant die Tanztruppe selbst nebenbei verantwortet.
»Es war eine schwere Zeit; die Deutschen mochten das Ballett nicht«, erinnert sich Marianne Wick. Sie leitete in den 1960er Jahren vorübergehend das Ballett Krefeld/Mönchengladbach. Noch rückblickend echauffiert sich die Tanzkünstlerin und spätere Publizistin, die heute in Berlin lebt. Sie war in Paris gewesen, hatte dort die Begeisterung der Theater und des Publikums für die Tanzkunst erlebt. »In Krefeld waren wir immer hinten dran«, so die alte Dame. Deshalb ging sie nach wenigen Monaten wieder fort. Sie nahm ein Angebot aus Italien an.
Dabei hatte sich am Niederrhein durchaus schon etwas bewegt. Wicks Vorgänger war von 1958 bis 1964 immerhin Werner Stammer gewesen, ein ausgewiesener Tanz-Experte. Der ehemalige Ballettchef der Münchner Staatsoper (1938) und Ballettmeister (u.a. bei den Ikonen des Ausdruckstanzes Gret Palucca und Mary Wigman sowie am Theater am Gärtnerplatz in München) überzeugte den Intendanten offenbar, auch mal eine Ballettproduktion mehr herauszubringen. Er choreografierte selbst: u.a. »Die Josephslegende« (1959/60) zu Richard Strauss, »Pan und Syrinx« (1960/61) zu Christoph Willibald Gluck oder »Ballett-Suite Op. 130« (1961/62) zu Max Reger.
In Stuttgart sorgte derweil der Brite John Cranko von den frühen 1960er Jahren bis zu seinem Unfalltod 1973 für ein Ballettwunder, insbesondere mit seinen klassischen Handlungsballetten. Die Euphoriewelle schwappte von dort durch die Republik, auch zum Niederrhein. Die angesehene Choreografin und Ballettdirektorin Gise Furtwängler kam von 1971-74 ans Haus, bevor mit dem Ehepaar Frank und Annabel Croszey eine reiche Ära (1975-1985) anbrach. Er choreografierte, sie war seine Primaballerina. Die Croszeys beglückten das Publikum mit dem Repertoire der Klassik vom »Nussknacker« über »Sylvia« bis zu »Schwanensee«. Auch die russische Schule wurde gefeiert u.a. mit »Scheherazade«, »Daphnis und Chloé« und »Nachmittag eines Faun«.
Nach Frank Croszey kam Irene Schneider, die in ihrer fünfjährigen Amtszeit u.a. Shakespeare (»Der Sturm«) und Goethe (»Stella«) vertanzte. Ihr folgte Madeleine Bart, die beispielsweise mit ihrem »Gershwin-Abend« in Erinnerung blieb.
Heidrun Schwaarz gelang es dann ab 1996, internationale Stars der Szene an den Niederrhein zu holen. Die Münchenerin mit der roten Löwenmähne war eine bedeutende Tänzerin gewesen und brachte wertvolle Kontakte mit. Als Solistin der Deutschen Oper Berlin war sie mit Topleuten wie Rudolf Nurejew aufgetreten, bei den Salzburger Festspielen hatte sie für Herbert van Karajan in dessen »Salome« den »Tanz der sieben Schleier« interpretiert – gegen den erklärten Willen der Opernsängerin Hildegard Behrens, die selbst tanzen wollte. Später choreografierte Schwaarz für Karajan in »Falstaff«. Der niederländische Meisterchoreograf Hans van Manen mochte in Berlin keine Produktion ohne sie herausbringen. So gelang es Schwaarz, zwei Werke des weltberühmten Freundes (»Fünf Tangos« und »Black Cake«) auf ihrem Spielplan zu präsentieren. Außerdem holte sie als Gastchoreografen Renato Zanella und Christopher Bruce in die Ballettprovinz. Robert North feierte bei ihr sogar die Uraufführung seines »Bach«-Balletts. Die Powerfrau konnte sich diese Namen leisten – dank des Förderprojektes »Tanzforum« der Sparkassen-Kulturstiftung Krefeld.
Heidrun Schwaarz selbst schuf 20 Tanzstücke. Klassische Handlungsballette (»Romeo und Julia«, »Der Widerspenstigen Zähmung«), Eigenkreationen (»Nijinsky«, »Die Windsbraut«, ihr letztes Werk), Kinderstücke (»Max und Moritz«, »Alice im Wunderland«, »Die unendliche Geschichte«). Die FAZ lobte 2001 an ihrem »Peer Gynt«-Ballett in Mönchengladbach die »fast expressionistische Aufführung« mit ihren »starken Zeichen, starken Farben«. Zehn Jahre wirkte die Künstlerin an den Vereinigten Bühnen als sie, 63 Jahre alt, im Schlaf der Herztod ereilte.
Robert North überlegte lange, bevor er am Niederrhein Verantwortung übernahm. Als Leiter der Münchener Ballettakademie konnte er zunächst nur ein Engagement als Chefchoreograf annehmen. War er in München, kümmerte sich seine Assistentin und Ehefrau Sheri Cook um das Ensemble. Der Amerikaner erwies sich als Freund: Er verwirklichte noch Heidrun Schwaarz’ letztes Projekt: Shakespeares »Sommernachtstraum«. Drei Jahre später, als er mit 65 Jahren die Leitung der bayerischen Tanzakademie aufgab, bekannte sich der bedeutende Choreograf zu Krefeld und Mönchengladbach. Als Ballettchef erfreut er seitdem sein treues und fachkundiges Publikum mit klassischen Handlungsballetten und eigenen Kreationen, einige in Zusammenarbeit mit dem Pianisten und Komponisten André Parfenov (»Die Verlorenen Kinder«, »Chagall-Fantasie«). Seine Handschrift, eine hochmusikalische Verbindung aus dynamischer Klassik und lässiger Moderne, prägt das Profil der Company. Ballettprovinz ist der Niederrhein schon lange nicht mehr.
Bettina Trouwborst