Über Kultur von unten oder wie demokratische Politik funktioniert
Kultur – der Begriff hat sich geweitet,und da er heute in allen Lebensbereichen anzutreffen ist, mag unter jüngeren Leuten Erstaunen ernten, wer »Kultur von unten« in den Mund nimmt. Subkultur, Underground haben sich in der unentwegten Umwälzung der Pop-Art – in Ton und Bild – als Schlagworte gehalten, stehen aber eher für einen bestimmten urbanen Lebensstil denn für demokratische Kultur, die in den frühen 1970er Jahren allerorten gefordert wurde. Teilhabe, Inklusion, Integration umschreiben im heutigen Sprachduktus einen Aspekt dessen, was als Saatkorn der Studentenrevolte von 1968 in den Folgejahren im gesellschaftlichen Humus aufging. Wie das Experiment der Beteiligung aller am kulturellen Leben in Krefeld sich entwickelte, reißt Dr. Eugen Gerritz im Gespräch an.Eine Form der mündlichen Tradierung – die ja die älteste überhaupt, aber als »oral history« auch ein Kind jener Jahre ist.
Selbst war er kein 68er, aber als junger Lehrer am Fichte-Gymnasium wehte ihm bald aus der Schülerschaft der frische Wind der Protestbewegung entgegen, und er nahm die neuen Aromen blitzschnell auf. Anschaulich erzählt Dr. Eugen Gerritz, wie er mit der plötzlichen legeren Offenheit seiner Schüler umging: »Zur Abiturprüfung trugen wir beteiligten Lehrer den Ernst der Situation mit schwarzen Anzügen und Silberkrawatten vor uns her, und die Mehrheit fühlte sich nicht respektiert und provoziert, als ein Prüfling langhaarig, in abgerissenen Jeans vor uns erschien. Ich entschuldigte mich, radelte nachhause und zog mich um.«
Gerritz war 1964 in die SPD eingetreten und 1969 in den Krefelder Stadtrat gewählt worden. Und als zugewandter Pädagoge und Vollblutpolitiker schrieb er sich die Losung seines Parteigenossen Hilmar Hoffmann »Kultur für alle« aufs Panier. »Es war eine Zeit des Aufbruchs, unten passierte etwas«, erinnert er sich. An allen Ecken und Enden, in allen Bereichen der Gesellschaft gärte es, Kulturschaffende aller Sparten wurden beflügelt von dem bis dato unbekannten Gefühl, gemeinsam Alternativen zubestehenden Strukturen entwickeln zu können. »Als Kulturpolitiker hieß es kreativ zu sein, so Gerritz. »Man darf nicht anfangen über Geld zu reden, bevor man sich über Inhalte verständigt hat«, so sein Credo aus jenen »Gründertagen«, dem er bis in die Gegenwart anhängt. »Ich hörte mir die Anliegen der Künstler an, und dann begann das Helfen«, weiß der bald 80-Jährige zu berichten.
Damals wurden bundesweit Programme gefördert, Gewerberäume aus der Innenstadt in neue Gewerbegebiete an der Peripherie zu verlagern. Hinterhof-Werkstätten standen leer. Wie konnte die Kommune Künstler unterstützen, die händeringend nach Ateliers suchten? Die Situation erforderte Improvisationsgeist und Mut zum Experimentieren. »Links, rot, schräg, das ging noch zusammen«, schmunzelt Gerritz.» Es war doch so, dass viele Vermieter noch dem Vorurteil anhingen, Künstler seien unsolide Existenzen, die keine Miete bezahlen könnten. Also starteten wir, um Künstler in der Stadt zu halten, das Atelierförderprogramm. Wir traten als Kommune an den potenziellen Vermieter heran und bürgten. Das Projekt wurde mit Herzblut betreut. Mit geringen Mitteln erzielten wir einen großen Effekt. Wir hatten 40 Ateliers für Künstler, und meines Wissens gab es nie Klagen von den Vermietern.«
Nicht ohne Stolz betont Gerritz, dass andere Kommunen das Krefelder Modell nachahmten und fügt hinzu: »Heute haben wir eine vergleichbare Problematik: Wie halten wir junge Kreative in der Stadt? Design-Absolventen der Hochschule verfügten über das Potenzial, ein neues urbanes Klima zu schaffen.«
In jener Zeit reifte auch die Erkenntnis, dass auch Sozialpolitik eine Art von Kulturpolitik ist. Das Werkhaus gibt bis heute Zeugnis davon. Gerritz hat es mit auf den Weg gebracht wie das Projekt Südbahnhof, hat die Kulturfabrik angeschoben, die Fabrik Heeder, das KRESCHtheater, Theater unten, GKK … was heute Krefelder Kultur kennzeichnet, wurde damals von umtriebigen und findigen Menschen wie Gerritz aus der Taufe gehoben. Sie engagierten sich fürs Gemeinwohl, ohne die Hand aufzuhalten und wurden königlich belohnt durch ein wachsendes Bewusstsein für den Wert von Kultur in allen Bevölkerungsschichten.
Das Textilmuseum regte Gerritz 1975 an, weil er um die einzigartige international anerkannteStoffsammlung der Textilfachschule wusste und diese im Rahmen der Hochschulreform nicht an die neu gegründete Fachhochschule oder an ein bestehendes Museum im Land verlieren wollte. Die Ansiedlung der Zentralen Forschungsstelle für die Restaurierung historischer Gewebe als zweitem Bein der Museumsarbeit sicherte den Fortbestand und Landeszuschüsse für den Neubau in Linn 1981.
Auch im Musikangebot der Stadt bewegte sich etwas: Durch den Einbau elektrischer Heizungen in den historischen Bau konnte das Konzertprogramm der »Serenaden auf Burg Linn« ab der Saison 1974 aufs ganze Jahr erweitert werden.
1978 wurde der ursprünglichen Elterninitiative »Rund um St. Josef« ein Raum zur Verfügung gestellt, dann ein benachbartes leerstehendes Hotel, das es ihr ermöglichte Schritt für Schritt zu wachsen, bis hin zu einer breiten Palette von Angeboten, die heute auch die Trägerschaft des Ganztagsbetriebs am Fichte-Gymnasium beinhaltet. »Für die Villa Merländer, ein unbeachtetes architektonisches Kleinod damals, fanden wir eine Bestimmung, die ihrer Geschichte entsprach und den Denkmalwert des Hauses würdigte«, unterstreicht Gerritz. Und weiter: »Das NS-Dokumentationszentrum hätte keinen besseren Ort finden können.«
Dr. Eugen Gerritz ist in seiner Heimatstadt ganz und gar in seinem Element, er beobachtet und berät nach wie vor interessiert. In seiner langen aktiven Ära kannte er Gott und die Welt und schöpfte aus dieser Nähe zu den Menschen und seinem Wissen um kommunale Gegebenheiten, wenn er scheinbar mühelos lose Fäden aufnahm, verknüpfte und daraus tragfähige Netzwerke wachsen ließ. Welcher Segen wären heutzutage Kulturpolitiker seines Formats, die leeren kommunalen Kassen mit Kreativität und Findigkeit begegneten!
Irmgard Bernrieder