Die sprichwörtliche Tinte unter den Verträgen für die notwendigen Grundstückskäufe zum Vagedesplan war noch nicht ganz trocken, da musste schon wieder eine neue Erweiterung her. Die Krefelder Bevölkerung hatte sich in den Jahren von 1815 bis 1835 verdreifacht, von 7.000 auf etwa 22.000. Und so mussten sich die Stadt und die Regierung in Düsseldorf wieder Gedanken über eine neue Stadterweiterung machen. In seinem ersten groben Entwurf sah der Düsseldorfer Regierungs- und Baurat Umpfenbach einfach Parallelstraßen zu den vier Wällen vor und nannte die äußersten, entsprechend breit geplant, in Anlehnung daran Nord-, Süd-, Ost- und Westpromenade. Zwei geplante große Marktplätze, heute Karls- und Luisenplatz, waren als Gegenstück oder Ergänzung zum Neumarkt gedacht. In einem zweiten, überarbeiteten Entwurf von 1837, und 1843 genehmigt, wurde das geplante Stadterweiterungsgebiet noch einmal erheblich vergrößert. Es war von der Prinz-Ferdinand-Straße im Westen bis zur Kronprinzen- (der heutigen Philadelphia-) Straße im Osten gedacht und von der Oranierstraße (heute Oranierring) im Norden bis zur Chaussee- (heutige Ritter-) Straße im Süden. Das war mehr als das Dreifache der Altstadt innerhalb der vier Wälle, statt 60 Hektar nun auf einmal 280 Hektar.
Die Stadt zählte 1879 schon 70.000 Einwohner und im Osten und Westen waren die Grenzen der Umpfenbachschen Planung von 1843 schon überschritten worden. In den neuen Stadtteilen waren zahlreiche neue öffentlichen Gebäude entstanden, für die innerhalb der vier Wälle kein Platz mehr gegeben war, unter anderem drei Kirchen und zwei Waisenhäuser, Volksschulen, Gymnasien und eine Gewerbeschule. Zwischen den alten Wegen, die von der Stadt ins Umland führten und schon mit kleinen Häuschen bestückt waren, vergleichbar einer Erkundungstruppe oder einem Vorauskommando, wurden Zug um Zug die geplanten Straßen abgesteckt und die ersten neuen Häuser gebaut und die Stadt fraß sich unaufhaltsam weiter in das noch ländliche Umland.
Krefelder Drei- und Vierfensterhaus
Das war die Hochzeit des Krefelder Drei- und Vierfensterhauses. Die ursprünglich nur vorgesehenen zwei Geschosse, auf welche die Straßenbreiten angelegt waren, reichten, mit ausgebautem Speicher, nicht mehr aus und was über das dritte Geschoss hinaus ging, glaubte man nicht mehr vermieten zu können. Nach einer kurzen Übergangszeit mit einer unterschiedlich hohen, halben Zusatzetage, beispielsweise für Schlafräume oder das Personal, wurde nur noch dreigeschossig gebaut. Diese Entwicklung ist beispielsweise einschließlich der besonders ausgebildeten Eckbauten sehr schön an der Markt- und an der Blumenstraße in den Abschnitten zwischen der Stein- und der Prinz-Ferdinand-Straße abzulesen.
Es musste sehr preiswert und in aller Schnelle Raum geschaffen werden, nicht nur für die Menschen, die Bevölkerung wuchs in den kommenden Jahren jährlich um 3.000 bis 4.000 Personen, sondern auch für die notwendigen, neu zu schaffenden Arbeitsplätze. Und hierzu gehörte bei der vorherrschenden Seidenweberei nicht nur der entsprechende Webstuhl, sondern noch vieles mehr. Und wer lebte nicht alles von der Textilindustrie: Scherer und Zuschneider, Kartenschläger und Musterzeichner, Patroneure, Zurichter und Färber, natürlich auch die Ein- und Verkäufer bis hin zu den Fabrikanten und die Liste ließe sich noch weiter fortsetzen. Hinzu kamen Schreiner, Schlosser und Klempner, Maurer, Verputzer und Anstreicher, Bäcker, Metzger, Kohlen-, Milch- und Kolonialwarenhändler für das Lebensnotwendige. Und alle diese Menschen und ihre Gewerke fanden Platz in dem Krefelder Haus mit seinem einfachen standardisierten Grundriss und einer maximalen Ausnutzung des Grundstückes, ganz gleich es ob hinterher als Bürgerhaus, für eine Familie oder als Wohn – und Arbeitsstätte für den Besitzer und mehrere Mietparteien diente. Grundstücke, die versteigert und Neubauten, die man auf Verdacht erstellte, wurden zu Spekulationsobjekten für alle Bevölkerungsschichten, die auf Mietgewinne hofften. Neuankömmlinge, die vom Umland in die immer schneller wachsende Stadt strömten, bezogen die gerade fertig gestellte Häuser, um sie »trocken zu wohnen«, was die Miete für viele gerade noch erschwinglich machte. Von daher ist es sicherlich kein Zufall, dass der 100.000. Bürger Krefelds, der am 18. November 1887 Krefeld zur Großstadt machte, das Kind einer Einwandererfamilie war und in einem Krefelder Haus das Licht der Welt erblickte, welches am Rand der Weststadt gerade erst fertig gestellt worden war.
Über die Entwicklungsgeschichte und die Besonderheit des Krefelder Hauses wird an anderer Stelle berichtet, aber sein Siegeszug und seine Verbreitung sind im Stadtgebiet genauso gut zu sehen wie sein abruptes Ende.
1888, das Dreikaiserjahr, kann dann als das Ende des Krefelder Hauses angesehen werden. Nicht weil zweimal im Jahr ein Kaiser zu Grabe getragen wurde und daher mehr dunkle Stoffe als farbenfrohe Seiden gefragt waren, sondern weil in den folgenden Jahren das Wachstum der Krefelder Bevölkerung zum Erliegen kam. In dieser Zeit nahm die Umstellung vom Hand– auf den Maschinenwebstuhl gewaltig an Fahrt auf. Den fast 35.000 Handwebstühlen, auf denen für die Krefelder Firmen in der Stadt und dem nahen Umland gearbeitet wurde, standen 1882 nur 850 Maschinenwebstühle gegenüber. 1888, nur 6 Jahre später, waren es noch 22.000 gegen 4.000 und um 1900 hatte sich das Verhältnis schon gewendet: nur noch 9.000 Handwebstühle standen bereits 9.500 maschinenbetriebenen gegenüber.
Für die großen Webereien, die aussahen wie Mietkasernen und die nun überall in der Stadt gebaut wurden und in denen unendlich viele, mit Dampf betriebene Webstühle ratterten, suchte man Facharbeiter. Viele von den noch vor kurzem in die Stadt geströmten Handwebern wurden arbeitslos, Wohnraum in den neuen alten Häusern war nun überreich vorhanden, nachdem die großen alten ungetümen Handwebstühle ausgemustert worden waren. Baureife Grundstücke in den in Angriff genommenen Baublöcken konnten nicht mehr an den Mann gebracht werden und fristeten daraufhin und teilweise bis heute ein trauriges Dasein als Lagerplatz. Auch wenn sich, anders als in anderen Gewerken und an anderen Industriestandorten, der Wechsel auf die maschinelle Verarbeitung bei der hier vorherrschenden Seidenweberei viel später und auch langsamer durchsetzte – der Webstuhl, der in so vielen Krefelder Häusern Generationen lang gestanden hatte, war nun Geschichte geworden, und damit auch das Krefelder Haus.
Spätere Häuser
Ein Jahrzehnt später, als die Wirtschaft wieder Fahrt aufgenommen hatte, waren andere Häuser mit einem anderen Zuschnitt gefragt, es war die Zeit des Jugendstils. Die oft schönen großen Gebäude mit eigenem Treppenhaus, abgeschlossenen Wohnungen und nicht mehr so streng geometrisch klassizistisch angeordneten Fenstern führten so manche angefangene Häuserreihe fort und füllten noch so manche Baulücke aus dem vorangegangenen Jahrhundert. Wieder ein Jahrzehnt später, und nach einem Weltkrieg, den man später den Ersten nannte, waren wieder andere Häuser und andere Zuschnitt gefragt. Man dachte auf einmal viergeschossig und die langen Gebäudeflügel und engen Hinterhöfe waren bis auf wenige Ausnahmen nun Geschichte. Dennoch fügten sich auch diese Häuser nahtlos in die Reihen ein, aber bilden jenseits der Gleise, wie beispielsweise am Hammerschmidtplatz, auch schon eigene, neue Strukturen. Der nächste Krieg mit seinen unzähligen Spreng- und Brandbomben riss zahllose Lücken. Viele wurden schnell und manche nur notdürftig geflickt oder die stehen gebliebenen Reste wurden »überkront«, erkennbar an alten Relikten wie Eingangsstufen oder Sockelverkleidungen. Und auch in den darauf folgenden Jahren und Jahrzehnten wurde in der Stadt noch die eine oder andere Lücke, jeweils im Stil der Zeit, mehr oder weniger ordentlich geschlossen. Aber auch das ist ein Teil der Krefelder Geschichte die man, wenn man will, an den Häuserfronten ebenso modellhaft ablesen kann, wie die Stadterweiterungen des 18. Jahrhunderts an ihrem Grundriss. Und natürlich gibt es auch in diesem Bild Fehl – oder Flickstellen, an denen die Modernisierungswut der letzten Jahrzehnte nicht unschuldig ist.
Aber das ist eine ganz andere Geschichte.
Kindheit in einem Krefelder Haus
Aufgewachsen bin ich in einem Krefelder Haus, im Westbezirk. Genauer gesagt war es der Flügelanbau eines Dreifensterhauses auf dem unteren Teil der Prinz-Ferdinand-Straße, südlich der Marktstraße. Der Hauseingang und somit auch der Flügel waren links angeordnet, sodass die Fenster unserer beiden Zimmer nach Süden zeigten und die Sonne in der Mittagszeit auch herein.
Den Begriff Krefelder Haus hat in jener Zeit kein Mensch für diese Drei- und Vierfensterhäuser, die unser Viertel prägten, benutzt. Die meisten Häuser im Westen der Stadt waren im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstanden und unterschieden sich im Grunde nur dadurch, dass der Flügel mal länger oder kürzer, zwei oder drei Geschosse hoch oder über eine Tordurchfahrt zu erreichen war. Man wohnte im Flügel oder im Vorderhaus, oben oder Parterre. Die Toiletten waren auf dem Flur und manchmal sogar noch auf dem Hof. Fast alle meine Freunde und Schulkameraden wohnten so. Auch mein Vater ist in so einem Haus groß geworden und selbstverständlich auch mein Großvater.
Als das dritte Kind kam und die beiden Zimmer im Flügel zu klein wurden, zogen meine Eltern mit uns ein paar Häuser weiter, auf die gegenüberliegende Straßenseite in die zweite Etage, ins Vorderhaus. Die Hausbesitzerin, ein ältliches Fräulein, die auf die Anrede Fräulein sehr großen Wert legte, war über eine junge Familie mit drei kleinen Kindern als neue Mieter überhaupt nicht glücklich. Dem Druck jedoch, mit dem der Herr Pastor an ihr gutes Herz und das Gebot der christlichen Nächstenliebe appellierte, konnte sie nichts Gewichtiges entgegensetzen. Später dann saßen wir bei Tante Adele, wie wir sie nennen durften, auf der Fensterbank und sie sang uns das Lied von der Amsel, dem schwarzen Peter, vor.
Sieben Parteien, heute kaum noch vorstellbar, lebten zu diesem Zeitpunkt in dem Haus. Im Vorderhaus, Parterre, direkt neben der Haustür wohnte traditionell der »Hosbes« (Hausbesitzer). Oft hatte er dort einen Laden oder hinten im Hof eine Werkstatt. So war es auch hier gewesen. Im ehemaligen Verkaufsraum der Bäckerei, die ihr Vater dort bis vor dem Krieg führte und in der dahinter liegenden ehemaligen Wohnküche, lebte die jetzige Eigentümerin. In dem großen Zimmer mit Balkon, in der Belletage, wohnte eine alte Dame die sehr schlecht zu Fuß war und sich immer hinten auf dem Flur, neben der Toilette das Wasser holen musste. In den eineinhalb Zimmern daneben, das kleine zur Straße, das andere zum Hof hin, wohnte die Witwe eines Kammermusikers. Darüber kamen wir.
Das große Zimmer zur Straße war Schlafzimmer für uns fünf, und der Schlafzimmerschrank verstellte die Tür zum Treppenhaus. Das kleine Zimmer daneben, mit nur einem Fenster zur Straße, war das Wohnzimmerchen, in dem auch der Schreibtisch meines Vaters stand, in dessen großer Schublade sich viele, für mich geheimnisvolle Dinge befanden. Die Küche, in der sich beinahe das ganze Leben abspielte, hatte zwei Fenster zum Hof durch die nur im Hochsommer und das auch nur am späten Nachmittag die Sonne herein schien. Das Mobiliar war übersichtlich: ein Küchenschrank mit Aufsatz für Töpfe und Geschirr, ein Küchentisch mit Schublade, zwei Stühle und eine Eckbank für uns Kinder, unter deren Sitzen alles Mögliche verstaut werden konnte und der Herd, der nicht nur zum Kochen und Backen und Waschen diente, sondern mit dem im Winter auch die ganze Wohnung geheizt wurde. In den anderthalb Zimmern im Flügel, zwei Stufen niedriger, aber auf der gleichen Etage wie wir, wohnte Tante Köhler, eine alte Kriegerwitwe und arm wie eine Kirchenmaus. Zeit ihres Lebens hatte sie sich mit Putzen und Waschen bei fremden Leuten über Wasser gehalten. Wer darunter wohnte, weiß ich nicht mehr. Parterre hinten, neben dem Hof, wohnte ein älteres Ehepaar und als dieses auszog, das muss etwa 1960 gewesen sein, zog mein Opa dort ein und brachte seine große, weiß emaillierten Badewanne mit dem dazu gehörenden Brikettofen, mit dem das Badewasser erhitzt wurde, mit. Fortan musste sich unsere Mutter nun nicht mehr jeden Freitagnachmittag, bepackt mit einer Tasche voller Handtücher, frischer Wäsche und einem Stück Seife und drei Kindern im Schlepptau zum wöchentlichen Bad in die Jägerstraße auf den Weg machen.
Als in der ersten Etage die Wohnung im Flügel frei wurde, bekamen wir Kinder in dem kleineren Raum, und die Eltern in dem größeren, ein eigenes Schlafzimmer. Als einige Jahre später meiner Mutter das Treppensteigen zu viel wurde und sich die Gelegenheit bot, zogen wir mit Küche und Wohnzimmer eine Etage tiefer. In die Wohnung oben zog dann, wieder gegen den anfänglichen Widerstand der alten Hausbesitzerin, eine junge Gastarbeiterfamilie mit italienischen Wurzeln ein. Irgendwann bekam auch meine Schwester ein eigenes Zimmer, die Küche kam nach ganz unten und rückblickend muss man feststellen, dass wir im Laufe der Jahre und Jahrzehnte nach und nach fast alle Räume auf die eine oder andere Weise bewohnt oder genutzt haben, angefangen vom Keller mit der ehemaligen Backstube im Flügel, in der noch der alte Backofen stand, über den Luftschutzraum im Vorderhaus, in dem neben den Kohlen auch in einer windschiefen und wurmstichigen alten Küchenanrichte die Einmachgläser aufbewahrt wurden, bis hinauf zum Trockenspeicher auf dem man herrlich spielen konnte. In einem der Speicherzimmer, in denen ursprünglich einmal Kostgänger gewohnt hatten, wurden in alten Koffern die Dinge gelagert, für die in den Schränken kein Platz mehr war und natürlich all´ die Marmeladengläser. Und hinten im Hof, auf dem nur ein paar Büschel Farn ihr trauriges, lichtloses Dasein neben der Mülltonne fristeten, im Schuppen hinter dem Flügel, der einmal Waschküche gewesen war, hatten wir, neben der Teppichstange, Platz für unsere Fahrräder.
Georg Opdenberg
Ein weiterer Text beschreibt Kindheitserinnerungen von Prof. Ernst Althoff vom Sommer 1938