Unhintergehbarer Analytiker und Träumer

»Wenn ich einen Fisch esse/Karpfen besonders/denke ich meist bewundernd/dieser sprach nie/dieser genüßliche Mund/suchte den Schlamm ab und schwieg.« (Heinar Kipphardt)

Heinar Kipphardt. Foto: Linde Schleinkofer-Kipphardt
Heinar Kipphardt. Foto: Linde Schleinkofer-Kipphardt

Wenige aber umso eigensinnigere, kautzig-melancholische Autoren brachte diese Stadt hervor. Unter den Zeitgenossen sind zu nennen: Liesel Willems, postpoetry NRW-Preisträgerin 2014, Ulrich Peltzer, der 2001 den Niederrheinischen Literaturpreis erhielt, und Herbert Genzmer, dem diese Ehre 1994 zuteil wurde. Aber auch die bislang nicht gekürten schreibenden Frauen und Männer tragen ihr Teil zur lebendigen Kulturszene Krefelds bei (siehe Autoren-Liste).

Sie sprechen alle für sich. Blicken wir aber ein gutes halbes Jahrhundert zurück, um einen Dichter dem Vergessen zu entreißen, dessen Mund für immer verstummt ist: Heinar Kipphardt, die bemerkenswerteste Persönlichkeit der literarischen Nachkriegsmoderne, derer Krefeld sich rühmen kann.

Seine großen dokumentarischen Dramen »In der Sache J. Robert Oppenheimer« (1964), »Joel Brand« (1965), »Bruder Eichmann« (1982) und der März-Stoff Mitte der 70er Jahre, als Roman, Schauspiel, Film haben ihn berühmt gemacht und gehören bis heute zum Kanon der deutschsprachigen Literatur.

15jährig kam er in die Stadt, als Sohn eines Ex-KZ-Häftlings zum Außenseiter gestempelt. Mit Vater und Mutter lebte er hier, absolvierte 1940 sein Abitur am Gymnasium am Moltke-Platz, begann ein Medizin-Studium in Bonn, weil es ihm angesichts von Krieg und Diktatur zweckmäßig erschien. Die Neurologie hatte es ihm angetan und die Psychologie: »Ich kann dem Schizophrenen nur nahekommen, wenn ich mich wenigstens frage, ob er mir nicht mehr über die innere Welt beibringen kann als ich ihm. Da bin ich auf dem Weg zu ihm. Die Schizophrenie ist nicht nur ein Defekt. Ich spüre im psychotischen Verhalten vieler Kranker einen unerkannten Wert, einen menschlichen Entwurf anderer Art. Jede wirkliche Entdeckung hat den abweichenden Blick zur Voraussetzung.« Parallel besuchte er Seminare in Literaturwissenschaften und Philosophie. Und er musste wie alle seiner Generation sein Studium abbrechen und Soldat werden. Er überlebte die Ostfront, desertierte kurz vor Kriegsende.

1945 zieht er nach Krefeld, arbeitet als Assistenzarzt an den städtischen Krankenanstalten und später in Düsseldorf-Grafenberg, und promoviert 1950. Schon ein Jahr zuvor war er angesichts der restaurativen Stimmung in der Bundesrepublik mit seiner Frau nach Ostberlin übersiedelt und als Psychiater an der Charité tätig. Es entstehen erste Gedichte, und mehr und mehr setzt sich sein Drang zu schreiben durch. »Ich war immer überzeugt, nur Gedichte seien in der Literatur wirklich ernst zu nehmen. In erträglicher Verfassung lese ich am liebsten Gedichte, und von den Qualen des Schreibens ist mir einzig die des Gedichtemachens keine«, so Kipphardt.

Zehn Jahre am Deutschen Theater Berlin-Ost folgen. Kipphardt wird SED-Mitglied, bleibt aber unkorrumpierbar, und wird schließlich wegen »revisionistischer« Aktivitäten entlassen. Auch im sogenannten »freien Teil Deutschlands«, muss er – nun Chefdramaturg an den Kammerspielen München – zwölf Jahre später seinen Hut nehmen. Wegen »staatsfeindlicher Aktivitäten« diesmal. Als »Drachenbrut« im Sinne der Biermann-Parabel »Der Dra-Dra« waren auf zwei Seiten des zugehörigen Programmhefts 24 Köpfe westdeutscher Machthaber aus Wirtschaft, Politik und Publizistik abgebildet; darunter auch das Konterfei des Münchner Oberbürgermeisters Hans-Jochen Vogel. Die Seiten blieben weiß, weil Intendant Everding schon im Vorfeld juristische Bedenken hatte.

Während seiner Zeit als Dramaturg, am Schauspielhaus Düsseldorf, von 1959 bis 1961, wohnte Kipphardt mit seiner Familie wieder in Krefeld, wo ihn der hiesige Architekt Ernst J. Althoff (86) kennenlernte. »Er hatte eine leise Stimme, und beobachtete aus dem Hintergrund alles aufmerksam, ehe er seinen Mund auftat«, erinnert sich dieser an Begegnungen mit dem Schriftsteller, der Ende der 1950er Jahre zu einem Freundeskreis um Joseph Beuys, Rainer Lynen, Dr. Georg Hirz (Inhaber und Geschäftsführer der Möbelstoffweberei Storck Gebr. & Co) und anderen stieß. Regelmäßig kam man im Atelier Althoff an der Mittelstraße 33 zusammen, und mit dem bedachten Mann in der Runde herrschte auf einmal ein anderen Ton, weiß Althoff. Die Ost-West-Spannungen und gesellschaftspolitische Themen beherrschten nun die Diskussionen, wo zuvor die »Gute Form« und andere Themen des Deutschen Werkbundes vorgeherrscht hatten. Freilich, so Althoff, vertiefte man die Themen selten.

Benjamin Henrichs bringt es in seinem Nachruf wohl auf den Punkt: »Er dozierte nicht, er erzählte; er behielt nicht recht, er hörte zu«. Der Literaturkritiker der ZEIT unterstreicht damit Kipphardts unhintergehbare Denkweise, die er im Nachwort zu seinem wohl berühmtesten Drama »In der Sache J. Robert Oppenheimer« ausdrückt: »Wenn die Wahrheit von einer Wirkung bedroht schien, opferte ich die Wirkung.«

Irmgard Bernrieder

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Biografie Heinar Kipphardt