Der Bühnen-Berserker

Hans Neuenfels, der 1941 in Krefeld geborene Regisseur, revolutionierte das Musiktheater. Seine Frankfurter »Aida«-Inszenierung ist Legende.

Wenn sich der kleine Mann den großen Künstler vorstellt, hängen oft Klischees wie faule Pflaumen am Baum. Der Künstler lebt ungesund. Seine Arbeitszeiten sind absurd. Er schafft wie in Trance. Seine Phantasie gilt dem Weltgeist und entzündet sich nur unter Weingeist. Und im Zentrum seiner Welt befindet sich vor allem er selbst.

Hans Neuenfels, der fulminante Theater- und Opernregisseur, ist ein Künstler, der mit Pflaumen und Trauben höchst zufrieden scheint – vor allem, wenn sie in gekelterter und gekühlter Form aus Weißweinflaschen zu ihm kommen. Ohne seine Drogen, also ohne Wein und Zigaretten, kann Neuenfels nicht so exzellent arbeiten, aber wir wollen uns nicht vorstellen, wie es um unsere Theater- und Opernwelt ohne diesen liebenswürdigen Süchtigen bestellt wäre – sie wäre unendlich viel langweiliger, stupider, trüber, geistloser. Und ihr fehlten die lauten und leisen Skandale, die dieser furiose Regisseur uns so oft gestiftet hat.

Neuenfels, 1941 in Krefeld geboren, der Mann, der als Jüngling Max Ernst assistierte; der 1970 in Wuppertal Sean O’Caseys Theaterstück »Der Stern wird rot« tatsächlich im Kommunismus aufgehen ließ; der das Musiktheater 1980 mit seiner Frankfurter »Aida« wässerte (die Titelheldin als Putzfrau); der später seine Stuttgarter »Meistersinger« grandios mit dem Phänomen der Verführbarkeit der Masse spielen ließ; der im Berliner »Idomeneo« den König Prophetenhäupter abhacken ließ und der Deutschen Oper Polizeischutz einbrockte; der seinen Essener »Tannhäuser« lustig unter die Zeche Zollverein verlegte; der 2010 mit echtem »Lohengrin« und erfundenen Ratten spät, aber heiß ersehnt in Bayreuth ankam – dieser Neuenfels, der sich oft wie ein Astronaut der Bühnenkunst gebärdet, entstammt einem bürgerlichen Krefelder Elternhaus und steckte, wie er mal sagte, im »morastigen Katholizismus des Niederrheins«, eine Formulierung, die man bei Neuenfels nicht zu hoch hängen sollte. Und nicht selten sind die frommsten Ministranten später die größten Revoluzzer.

Wieso Astronaut? Nun, das Wegweisende seiner Art des Arbeitens ist die Konsequenz, mit der er sich sehr weit von den Stücken wegbewegt, um gleichsam von oben auf sie zu schauen und sich vorzustellen, welche Transferleistungen sie aushalten. Er wollte die »Aida« nicht mutwillig aus Ägypten verbannen; er war aber der Meinung, dass Sklaverei immerzu und überall am Werk und nicht auf eine bestimmte Zeit begrenzt ist. Wer ihm empört entgegentritt und auf das vermeintlich unantastbare Original verweist, sollte sich vorsehen: Neuenfels kennt jeden Buchstaben, jeden Ton des Werks, aber so wichtig es ihm ist, dass diese Basis nicht verletzt wird, so wichtig ist ihm die Dehnbarkeit eines Stoffs, die Transportfähigkeit. Mozart, sagt Neuenfels, kann nicht nur im 18. Jahrhundert spielen – Mozart ereignet sich immer, überall, jederzeit.

Und Wagner? Der »Lohengrin«? In Bayreuth steckte Neuenfels den Schwanenritter ins Versuchslabor, in dem sich Ratten aus dem Käfig in die Selbstständigkeit eines Opernchors befreit haben. Sie besitzen lange Schwänze, Füße und Krallen, tragen Rattenköpfchen als transparente Tarnkappen, sie putzen sich die Bäckchen, sehen allerliebst aus und geben sich alle Mühe, richtige Menschen zu werden. Sie werden von vermummten Laboranten beaufsichtigt und auch schon einmal ruhiggespritzt. Alles auf der Bühne atmet die Aussichtslosigkeit des Künstlichen. Sogar das Brautgemach ist eine Schleiflackhölle, in der das Ehebett mit Seilen wie ein Kunstwerk abgeschirmt ist. Liebe für den toten Winkel.

Die Tendenz des Abends hätte man ahnen können. Gern implantiert Neuenfels den Opernstoffen fremdes animalisches Gewebe; immer schon spielten Menschen in Tiergestalt eine Rolle. Ergreifend der Moment, da sich die Ratten auf der Bayreuther Bühne aus ihren Pelzen schälen und sie an Haken aufhängen, die in den Schnürboden hochgezogen werden. Mancher entpuppt sich spät erst als Nager: Graf Telramund, die Gierigste aller Ratten, wird am Ende von Lohengrin erschlagen. Er war eine Missgeburt, ebenso wie der ersehnte Gottfried, der aus einem obskuren Schwanenei als deformiertes, wasserbäuchiges und -köpfiges Neugeborenes mit rattenschwänziger Nabelschnur krabbelt und der Welt einen höhnischen Gruß entbietet. Die sinkt sofort ohnmächtig zu Boden. Lohengrins Mission: traurig erfüllt. Auch der Schwan, den man den Abend über in verschiedenen Aggregatzuständen sah (erhaben, gerupft, zu Porzellan erstarrt), hat ausgedient.

Menschen als Ratten? Wer nun Falsches denkt, sei versichert: Neuenfels liebt die Menschen auf der Bühne, er denunziert sie nicht. Zudem erinnert man sich seines etwas wohlfeilen Satzes, er sei »lieber Humanist als Christ«. Egal, bei allem und jedem empfindet er sich als heiteren Ketzer, als notorischen Abweichler von den Regeln, als Vollstrecker des Verbotenen, als personifizierte Gegensprechanlage. Nicht grundlos heißt seine Autobiografie, die er vor einigen Jahren vorlegte, kurz und heftig »Bastardbuch«. Es beschreibt »Abzweigungen von dem sogenannten Normalen«. Für ihn sind alle Abzweigungen die Ideallinie, die zum Pionierhaften über den Asphalt der Genialität führt.

Was den Bastard anlangt, so hat Neuenfels die Rolle des streunenden Köters vollends verinnerlicht, also des glücklichen Hundes, der mit triebhaftem Genuss die Welt und ihre Bäume anpinkelt – am liebsten jene, an denen die fettesten Pflaumen hängen. So jemand produziert fast notwendigerweise Bühnenskandale. Solche Künstler braucht aber das Land, vor allem wenn sie vergnügte junge 73 Jahre alt werden, literarisch eminent begabt sind und, wie gesagt, eine Autobiografie veröffentlichen, die man wie in einem Rausch wegliest.

Sollten die Bühnenarbeiten, die er bereitet, mitunter in sich haken und formale Fehler aufweisen, so beißt Neuenfels als Erster ins Sofakissen, und zwar vor Zorn. Der Kritiker Neuenfels geht mit sich selbst besonders hart ins Gericht; er gilt als erbitterter Feind jedweder Schlamperei, wie überhaupt Aufregung bei ihm stets im Fortissimo gesungen wird. Der Astronaut ist auch ein Wüterich mit Mimosenherzen – und er ist ebenso die Diva, die besorgt-enttäuscht nachfragt, falls ein Intendant ihm für die nächste Saison keine Neuproduktion anbietet.

Zugleich war er schon früh von sternkalter Arroganz, als er 1959 sein erstes Gedichtbändchen herausbrachte und als Illustrator des Einbands ausgerechnet einen gewissen Hans Arp ablehnte. Aber derlei war kein Pubertätsschub. Neuenfels war mit sich und seinen Qualitätsmaßstäben schon früh im Reinen, weswegen Neuenfels derjenige Künstler ist, den Neuenfels in seinem Buch am liebsten ausschimpft. Wenn er schreibt, dass eine eigene Produktion total in die Hose gegangen sei, steigert das die Sympathie mit dem Autor kolossal.

Neuenfels ist mit der Schauspielerin Elisabeth Trissenaar verheiratet, die ihm als »siamesischer Zwilling« zur Seite steht. Mit ihr hat er allerhand auf der Bühne, davor und dahinter erlebt – und was sich ferner an privaten Inszenierungen ereignete, liest man in seiner Autobiografie fast bewegt: »dass die schönste, die gelungenste und längste gemeinsame Inszenierung, das Werden des Sohnes, zu fünfundsiebzig Prozent ihre Leistung ist«. Neuenfels zeigt uns, wenn er so formuliert, sein weiches, fast andächtiges Herz. Sternkalt wird er wieder, wenn er das Werden eines Regiekonzepts erzählt – bei »Nora«, bei »Medea«, bei »Troubadour«. Da erfährt der kleine Mann, was sich große Regisseure beim Inszenieren denken.

Dieses Gedachte ist immer prall, meist anders, oft kirchen- und obrigkeitskritisch, stets polemisch. Manchmal stellt Neuenfels, der Pionier und Entdecker im Fell des Bastards, Kunstwerke von Mozart bis Ibsen, von Wagner bis Brecht einfach auf den Kopf. Nicht selten verhilft ihnen das zur Kenntlichkeit.

Wolfram Goertz

Quelle:
Rheinische Post