Fluchtlinien und Spekulanten

Hauptbahnhof Krefeld, 2014. Foto: Ralf Janowski
Hauptbahnhof Krefeld, 2014. Foto: Ralf Janowski

Der sich überschlagende Wirtschaftsliberalismus der Gründerzeit stieß das beschauliche Landstädtchen Crefeld in den Mahlstrom unaufhörlichen Wachstums, das in den Augen seiner Vordenker nie enden sollte, aber schon mit Beginn des 1. Weltkrieges jäh abbrach. Aus verarmten ländlichen Gebieten waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ungelernte Arbeiter zuhauf in die Stadt und in die, Arbeit und Überleben verheißenden, Fabriken geströmt. Die Anzahl der mechanischen Webstühle in den Fabriken verzehnfachte sich in kürzester Zeit, während von 35.000 handbetriebenen Haus-Webstühlen zuletzt ganze 6.000 übrig blieben – und Webermeister, die sich als Lohnarbeiter verdingen mussten oder ohne Arbeit und Brot dastanden. Tausende brauchten eine Bleibe, also hatte die Stadt Bauland zu erschließen. Dazu gehörte der Bau von Wasserleitungen und die Kanalisation, die auch notwendig wurde, um die dicht besiedelte Altstadt zu entwässern. Neue Fabriken, in erster Linie Färbereien, benötigen die Kanalisation, um ihr Abwasser abzuleiten. Die ersten Kanäle zum Rhein wurden 1875 bis 1885 ausgehoben. Bis zur Jahrhundertwende überplante die Kommune neue Flächen, die größer waren als das gesamte damals bestehende Stadtgebiet: Südlich der Ritterstraße sollte Wohnraum für 55.000 Menschen entstehen (Krefeld zählte gerade einmal 74.000 Einwohner). Das öffnete der Bodenspekulation Tür und Tor, da sich der Preis landwirtschaftlicher Nutzflächen bei ihrer Umwandlung in Bauland vervielfachte. Der Überfluss an Bauland verhinderte eine geschlossene Bebauung, die Straßenzüge wiesen große Lücken auf.

Das Eisenbahnnetz wuchs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beständig, 1905/1906 wurden die Eisenbahngleise angehoben und auf neuen Trassen verlegt. Auf den Dämmen der aufgelassenen Trassen legte man die Ringstraße sowie Franken-, Preußen-, Oranier- und Nassauerring an. Die Fahrbahnen begleiteten mittig gepflanzte Baum-Alleen. Innerhalb von 20 Jahren erlebten die Krefelder eine rasante Mobilisierung: Zur innerstädtischen Pferdebahn kam 1883 die Dampfbahn nach Uerdingen, Hüls und Fischeln hinzu; ab 1889 verkehrte die Schnellbahn nach Düsseldorf, und 1900 wurde die »Elektrische« begeistert begrüßt. Vier Millionen verkaufte Tickets innerhalb eines Jahres sprechen Bände. Der Hauptbahnhof wurde 1905/1907 am Ende des Ostwalls nach Entwürfen von Hugo Koch errichtet, der sich gegen seinen Mitbewerber Karl Buschhüter durchgesetzt hatte. Die Empfangshalle und ein 46 Meter hoher Uhrenturm protzten mit Stilelementen der deutschen Neo-Renaissance. Drei Bahnsteige mit fünf Gleisen überdachte eine 56 Meter breite, 102 Meter lange Halle aus dem damals neuen Werkstoff Guss-Stahl.

Gipsschleuder fürs Make-up der Häuser

Drei-Fenster-Häuser in der Blumenstraße, 2014. Foto: Ralf Janowski
Drei-Fenster-Häuser in der Blumenstraße, 2014. Foto: Ralf Janowski

An den neuen Straßen wurden meist zweigeschossige Drei- und Vierfensterhäuser im klassizistischen Stil errichtet. Höhere, stattlichere Gebäude baute man an den Ecken der Wälle, am Nordwall und am Friedrichsplatz. Dieser Haustyp konnte als Weber- wie auch Bürgerhaus vorkommen. Abgeschlossene Wohnungen kannte man nicht. Mit der Erfindung der Gipsschleuder wurde die industrielle Fertigung von Stuckelementen möglich, Fassaden- und Innenraumdekor waren Tür und Tor geöffnet.

Bauwesen bei der Kommune

Das »Fluchtliniengesetz« vom 2. Juli 1875 legte die Baupolitik in die Hände der Kommunen, die eine eigene Planungsverwaltung aufbauten und Bebauungspläne selbstständig aufstellten. Der Deutsche Verein – ihm gehörten Ärzte, Ingenieure, Naturwissenschaftler und Verwaltungsbeamte an – erarbeitete Richtlinien zur öffentlichen Gesundheitspflege und formulierte darin Leitsätze für Neubauten in neuen Quartieren größerer Städte.

Irmgard Bernrieder