Programmheft Tonkünstlerversammlung, 1902. Foto: Elisabeth Kuhnen
Programmheft Tonkünstlerversammlung, 1902. Foto: Elisabeth Kuhnen

Im heutigen Stadtgebiet Krefelds gab es bekanntlich weder einen Fürstenhof noch einen Bischofssitz. Eine Bürgerschaft mit wohlhabenden Kaufleuten und Handwerkern, wie man sie aus den freien Reichsstätten oder anderen Metropolen seit dem Mittelalter kennt, konnte sich erst spät entfalten. Die Gelegenheiten, mit schönen Klängen in Berührung zu kommen, waren begrenzt: Lieder während der Gottesdienste, in der Schule, zu Hause bei der Arbeit oder nachher, Orgel- und Glockenklänge, gregorianische Melodien im römischen Ritus, mahnende Rufe von Post- oder Nachtwächterhorn, Getrommel bei militärischen Aufmärschen, Tanzweisen bei öffentlichen oder privaten Feiern …

Es waren die führenden Krefelder Familien, welche – dank Fleiß und bescheidener Lebensführung zu Wohlstand gekommen – seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert auch in der Musik Muße suchten und fanden. Gemeint sind die Hervorbringungen der in klassisch- romantischer Tradition so bezeichneten Kunstmusik. Aus kleinen, meist privaten Anfängen wurde Krefeld bald eine der führenden Musikstädte des Rheinlandes. Mit der Bestellung der Musikdirektoren hatte man eine glückliche Hand. Singverein, Orchester, Männergesangvereine und Kirchenchöre gaben den Krefeldern je länger je mehr die Möglichkeit, sich in dem großen Museum der musikalischen Tradition umzuhören und mit den neuen Klängen der eigenen Gegenwart vertraut zu werden. Vor allem: Man war nicht nur Zuhörer, viele waren begeisterte Sänger und Instrumentalisten. (Spärliche) städtische Subventionen begannen erst allmählich zu fließen. Von den zahlreichen Verbindungen mit den angesehensten Komponisten und Musikern der Zeit ist vor allem die Freundschaft mit Johannes Brahms in Erinnerung geblieben.

Höhepunkt des Krefelder Musiklebens im langen 19. Jahrhundert war die Tonkünstlerversammlung des Allgemeinen Deutschen Musikvereins im Jahre 1902 (Abbildung: Programm).

Ein Querschnitt des zeitgenössischen Musikschaffens wurde geboten, alles was Rang und Name hatte – darunter auch Krefelder Komponisten – fand sich ein, und Gustav Mahler konnte in der Krefelder Stadthalle seine 3. Sinfonie zur Uraufführung bringen. Nachzutragen wäre, dass Krefeld mit der »Wacht am Rhein« deutschlandweit, mit der Entwicklung des Bandoneons weltweit gewirkt hatte.

Ein Konservatorium war inzwischen begründet worden, und mit dem Musiktheater, das bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts nicht so recht vorangekommen war, trat nun ein mit wachsender Begeisterung aufgenommener Mitspieler auf den Plan. Das neue Jahrhundert konnte also mit einem ungemein reichhaltigen Musikprogramm aufwarten. Wie überall begann auch hier die Diskussion um die sogenannten Neutöner. Die Akteure wurden nach und nach in die Obhut städtischer Finanzierung genommen. Der kräftige Unterbau der weltlichen und kirchlichen Musikvereine stand nicht zurück. Im Jahre 1927 konnte Krefeld erneut das Tonkünstlerfest des Allgemeinen Deutschen Musikvereins ausrichten. Dank privater Initiative wurde das Orchester gerettet, als die Finanzkraft der Stadt infolge der Weltwirtschaftskrise so geschwächt war, dass die Musiker nicht mehr beschäftigt werden konnten. Das folgende Jahrzwölft brachte neben allerlei ideologischen Indienstnahmen, neben der Gründung der Musikschule, 1943 die Zerstörung von Stadthalle, Theater, Konservatorium und bald das Ende aller Veranstaltungen.

Es ist bewundernswert, wie sich schon 1945 das künstlerische und kulturelle Leben wieder zu entfalten begann. Das alte Niveau wurde wieder erreicht, nun in enger Zusammenarbeit mit Mönchengladbach. Die Theaterehe bewährt sich noch heute, und mit ihr das Orchester der Niederrheinischen Sinfoniker. Das neue Stadttheater und das Seidenweberhaus stehen bereit. Radikal neue und experimentelle Musik allerdings wanderte in Nischen ab. Der hier wirkenden Komponisten musste eigens gedacht werden. Welchen Raum die seit Mitte des Jahrhunderts flächendeckend sich ausbreitende Jazz-, Rock-, Popmusik der alten wie der sich erneuernden »Kunstmusik« lassen wird, dürfte nicht heute zu entscheiden sein. Akustische Umweltverschmutzung und grenzenlose Verfügbarkeit von allem, was klingt – Alltags- und Naturgeräusche eingeschlossen – hätten die eingangs ins Feld geführten Vorfahren wohl leicht auf den Gedanken bringen können, da sei der Teufel im Spiel, der bekanntlich lärmt, während die Engel singen.

NB. Wer sich veranlasst sieht nachzufragen, dem sei der Weg über die Bände 4 und 5 von »Krefeld. Die Geschichte der Stadt« (Hrsg. von Feinendegen/Vogt, 2003/2010) mit ihren reichen Literaturangaben und das Krefelder Jahrbuch »Die Heimat« (seit 1921, Register!) empfohlen.

Heribert Houben